
Jesuitenkirche Solothurn
Sonntag, 4. Dezember 2022, 16.00 Uhr
Leitung: Michael Rubeli
Solist: Hanspeter Thomann, Oboe
Programm
J. S. Bach 1685 – 1750
Sinfonia zur Kantate BWV 156
Adagio
A. Vivaldi 1678 – 1741
Concerto Madrigalesco für Streicher und Basso continuo
Adagio – Allegro – Adagio – Allegro ma non troppo
Arvo Pärt 1935*
Summa für Streichorchester
Joh. Joachim Agrell 1701 – 1765
Konzert für Oboe, Streicher und Basso continuo
Allegro – Adagio - Allegro
J. S. Bach 1685 – 1750
Ricercare a 6, aus dem musikalischen Opfer BWV 1079
Johann Pachelbel 1653 – 1706
Kanon
Alessandro Marcello 1684 – 1750
Konzert d-moll für Oboe, Streicher und Basso continuo
Andante e spiccato – Adagio – Presto
Konzertmeisterin: Franziska Grütter

Unser Solist, Hanspeter Thomann, Oboe, geboren 1944 in Kehrsatz bei Bern, wohnt in Brügg BE. Er ist langjähriger Zuzüger und Solo Oboist des Solothurner Kammerorchesters und des Barockorchesters I Cameristi. In selber Funktion war er während zwanzig Jahren Mitglied beim Berner Kammerorchester BKO. Als Zuzüger war er auch beim TOBS engagiert. Gemeinsam mit dem Zauberer Christoph Borer und der Pianistin Therese Thomann trat er im Trio Belle Époque mit unterhaltsamen und überraschenden Programmen auf. Während vieler Jahre unterrichtete er an den Musikschulen Burgdorf und Biel.
Die Sinfonia komponierte Johann Sebastian Bach 1729 in Leipzig als ersten Satz der Kantate BWV 156. Erstmals aufgeführt wurde sie am 23. Januar 1729. Laut Bachwerkverzeichnis basiert sie auf dem 2. Satz des Violinkonzertes in f-moll.
Dieses ist nur in einer Klavierbearbeitung überliefert, im Klavierkonzert BWV 1056. Die Sinfonia für Oboe, Streichorchester und Basso continuo steht in F-Dur. Die Melodie ist in ihrer Klarheit, Schlichtheit und Harmonik als Eröffnung und Hinleitung zu den weiterführenden Kantatensätzen angelegt. Der Solist Hanspeter Thomann interpretiert die Sinfonia mit Wiederholung. In der Wiederholung spielt er die von Bach persönlich stammenden Verzierungen. Zu den Verzierungen sagt er bildhaft: «Sie ranken sich wie Blumengirlanden um die schlichten Melodietöne.»
Das Concerto Madrigalesco RV 129, ein in mehrfacher Hinsicht besonderes Concerto, komponierte Antonio Vivaldi zwischen 1723 und 1729 für die jungen Musikerinnen des Ospedale della Pieta in Venedig. Von den meist dreisätzigen Concerti unterscheidet es sich durch seine Viersätzigkeit. Es bricht das übliche Muster der Satztempi schnell – langsam – schnell zu Gunsten eines langsamen ersten Satzes. Der dritte, ebenfalls langsame Satz bildet eher ein den vierten Satz einleitendes Zwischenspiel, als ein eigenständiges Adagio. Auffallend ist auch die kurze Aufführungsdauer des Werkes, das sich durch innige Andacht und expressiven Tonfall auszeichnet. Weshalb betitelt Vivaldi dieses Werk mit Concerto Madrigalesco? - Weil es durch Anlage, Gestalt und gesangliche Prägung der Melodien hindeutet auf die Madrigalkunst der Renaissance und des Frühbarocks als Quelle der Inspiration? Weil er in beiden langsamen Sätzen Themen aus seinen eigenen Chorwerken Kyrie RV 587 und Magnificat RV 610 in neuem Kontext verarbeitete? Weil es wie das Madrigal komplex durchkomponiert und auf emotionalen Ausdruck hin angelegt ist, wie das Madrigal nahezu kammermusikalischen Charakter trägt und in seiner Stimmung die Trennung von geistlicher und weltlicher Musik aufzulösen scheint?
‘Summa’ von Arvo Pärt „Ich habe ein hochformalisiertes Kompositionssystem entwickelt, in dem ich seit zwanzig Jahren meine Musik schreibe. In dieser Reihe ist ‘Summa’ das strengst gebaute und verschlüsseltste Werk“, sagte der 1935 geborene estnische Komponist. Bereits der Titel ist eine Verschlüsselung des Inhalts, – dem Werk liegt der Text des Glaubensbekenntnisses in lateinischer Sprache zugrunde. Komplexität verbirgt sich hinter größter Einfachheit. Die zugrundeliegenden Regeln bewirken einen Kreislauf ständiger Veränderungen auf der Oberfläche. Die Tiefenstruktur hingegen besitzt in sich ruhende Ordnungen. ‘Summa’ entstand 1977 für 4 Stimmen, uraufgeführt in Moskau. 1980 folgte eine Version für Streichquartett, 1991 eine Fassung für Streichorchester. Die radikale Reduktion der Ausdrucksmittel fordert größte Sorgfalt in der Ausführung. Ihres meditativen Charakters und der Rückbesinnung auf einfachste musikalische Grundformen wegen öffnet Pärts Musik Ohr und Sinne der Zuhörenden und Musizierenden auf wesentliche spirituelle Momente. Pärt entwickelte bereits vor seiner Emigration aus der Sowjetunion die von ihm selbst als »Tintinnabuli-Stil« („Tintinnabuli": lat. „Glöckchen") bezeichnete Kompositionsart: Kombinieren wechselnder, jedoch in sich fester Formen von Skalen- und Dreiklangsmustern. Arvo Pärt gehört zu den wichtigsten und gleichzeitig populärsten Schöpfern spiritueller, geistlicher Musik der Gegenwart und gilt als Vertreter der Neuen Einfachheit, als einer der bedeutendsten lebenden Komponisten Neuer Musik.
Das Oboenkonzert von Johan Joachim Agrell, 1975 vom Oboisten Bo Eriksson in der Bibliothek der Universität von Lund (Schweden) entdeckt, ist Teil der Sammlung, die dreiunddreissig Jahre nach Agrells Tod als Schenkung durch Carl Diedrich Engelhart, Sohn des damaligen Musikdirektors in Uppsala in den Besitz der Bibliothek gelangte. Das Entstehungsdatum ist unbekannt. Anlässlich einer Revision wurde die historische Partitur von offensichtlichen Fehlern bereinigt und mit Angaben zu Dynamik, Bindungen und Verzierungen ergänzt. Letztere sind eindrücklich zu hören im zweiten Satz. Johan J. Agrell, Sohn eines Pfarrers, wurde 1701 in Löth, Ostergötland geboren. Während seines Studiums in Uppsala erhielt er seine erste musikalische Ausbildung. Am Hof des Prinzen Maximilian von Hessen-Kassel, dem Bruder des schwedischen Königs Friedrich I., wohin er 1723 als Violinist und Cembalist berufenwurde, lernte Agrell neben Pietro Locatelli und Jean-Marie Leclair auch Johann Sebastian Bach kennen. 1746 wurde Agrell zum „Director Chori Musici“ der Reichsstadt Nürnberg bestellt, wo er bis zu seinem Tod 1765 wirkte. Orientierte er sich in frühen Jahren an der damals modernen italienischen Musik, insbesondere an Vivaldi, prägten ihn später zunehmend Elemente der Vorklassik, der Mannheimer Schule. Von Bedeutung ist sein Beitrag zur Entwicklung des sog. „bürgerlichen Klavierkonzerts“, sowie zur Ablösung der Sinfonie von der Oper und deren Entwicklung zur selbständigen Musikform. 1738 führte Antonio Vivaldi eine seiner Sinfonien in Amsterdam auf.
Das Ricercare a 6 komponierte J.S. Bach nach dem Besuch bei König Friedrich II. am 7. Mai 1747. An dessen Hof war Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel als Hofmusiker tätig. Anlässlich dieses Besuches trug der mit Leidenschaft Flöte spielende und sich im Komponieren übende Friedrich II. der anwesenden Gesellschaft, in der sich auch der Gast J.S. Bach befand, auf dem Fortepiano ein Thema vor, bestehend aus aufsteigendem Tonika Dreiklang mit beigefügter Sext, anschliessendem vermindertem Septimenfall und einer - der Schlusskadenz vorausgehend - absteigenden chromatischen Tonreihe. Nach diesem Vorspiel forderte Friedrich, der von Bachs Improvisationskunst wusste, diesen auf, darüber eine Fuge zu improvisieren. (Ein «Knackpunkt» des königlichen Themas bildet die früh absteigende chromatische Linie, die eine Engführung des Themas verunmöglicht und somit die kontrapunktische Verwendbarkeit des Themas einschränkt.) Über die Begegnung mit dem König berichteten die Berlinischen Nachrichten vom 7./8. Mai 1747. Bach soll, der Aufforderung des Königs folgend, eine 3-stimmige Fuge improvisiert haben, und zwar so meisterhaft, dass, „nicht nur Se. Majest. Dero allergnädigstes Wohlgefallen darüber zu bezeigen beliebten, sondern auch die sämtlichen Anwesenden in Verwunderung gesetzt wurden.“ Der König wünschte nun eine aus dem Thema abgeleitete sechsstimmige Fuge zu hören. Bach lehnte - wohl aufgrund der formalen Schwäche des Themas - bescheiden ab, versprach aber, dieses „in einer ordentlichen Fuga zu Papiere bringen, und hernach in Kupfer stechen lassen“. Nach seiner Rückkehr nach Leipzig löste er sein Versprechen ein. Ausgehend vom durch den König vorgegebenen Thema komponierte Bach einen Zyklus kontrapunktischer Sätze und weihte diesen dem «Allergnädigsten König als ein Musicalisches Opfer» (Zitat aus der gedruckten Vorrede). Die anfänglich nur für ein Tasteninstrument konzipierte Ausarbeitung Bachs zur sechsstimmigen Fuge, in deren Verlauf das königliche Thema in zunehmend grösseren Abständen erklingt, um schliesslich die Aufgabe des Cantus Firmus zu übernehmen, während neue musikalische Themen einfliessen, ist eine musikalische Meisterleistung und gilt als volle Ausreifung des barocken polyphonen Stiles, als ein kontrapunktisches Hauptwerk in Bachs Spätzeit. Ob Bach dafür vom preußischen Hof irgendeine Anerkennung erfuhr, ist nicht bekannt. Ende September lag die Sammlung im Druck vor. Die meisten der 200 Exemplare verteilte Bach „an gute Freünde gratis“, die übrigen wurden für 1 Taler das Stück verkauft.
Der Kanon von Johann Pachelbel vermittelt eine mit Arvo Pärts ‘Summa’ verwandte Stimmung. In barocker Klangsprache entwickelt und variiert Pachelbel über der permanent wiederholten Bassfigur D – A – h – fis – G – D – G – A ein Thema, das - wie einer Keimzelle entspringend - stetig an Dichte und Differenzierung gewinnt, um einem Erblühen gleich nach 57 Takten im Schlussakkord aufzugehen. Pachelbel komponierte den Kanon vermutlich für die Hochzeit von Johann Christoph Bach, den älteren Bruder von Johann Sebastian Bach, die am 23. Oktober 1694 stattfand. Die Besetzung des dreistimmigen Kanons, des einzigen von Pachelbel überlieferten Kanons, wird in den Urtextausgaben mit 3 Violinen und Basso continuo angegeben. Mit ihm erreichte Pachelbel Popularität bis in die Gegenwart. Popstars wie die Bee Gees, Nina Hagen, David Bowie und andere liessen sich davon inspirieren.
Das Oboenkonzert in d-moll von Alessandro Marcello zeichnet sich aus durch meisterhafte Formbehandlung. Johann Mattheson, barocker Musikschriftsteller, beschreibt die Melodik des Concertos als ganz dem «gleichsam redenden Hautbois» verpflichtet. Es wurde vermutlich bereits vor 1708, spätestens jedoch 1712/13 komponiert und muss eine weite handschriftliche Verbreitung gefunden haben, denn J.S. Bach hat das Werk um 1713/14 in Weimar zum unbegleiteten Cembalokonzert BWV 974 umgearbeitet. Den spannungsvollen Adagio-Satz mit seiner schlichten Melodieführung, die nach einer von Leidenschaft und Gefühlstiefe geprägten Kantilene verlangt, zierte Bach mit affektgeladenen, weitausschwingenden Melodiebögen aus. Der Solist Hanspeter Thomann bezieht Bachs Verzierungen ein in seine Interpretation und ermöglicht damit das Erleben einer authentischer Aufführungspraxis, entsprechend der Zeit Marcellos und Bachs. Das Adagio ist umrahmt vom durch ein kraftvolles Unisono bestimmten ersten Satz (Andante e spiccato) und dem virtuosen, im italienischen Correntenstil gehaltenen Finalsatz (Presto). Marcellos Oboenkonzert stellt das wahrscheinlich erste klassische Muster dieser Gattung überhaupt dar. Alessandro Marcello entstammt einem angesehenen Bürgerhaus in Venedig und erlangte eine universale künstlerische und wissenschaftliche Ausbildung. Neben seiner Betätigung als Komponist, Instrumentalvirtuose und Sänger trat er als Dichter und Maler hervor und beschäftigte sich mit Philosophie und Mathematik. Unter dem Namen Etorio Stinfalico war er Mitglied der Arcadia Rom. In seiner Geburtsstadt Venedig, wo Vivaldi und Albinoni wirkten, war er Zeuge des glanzvollen Aufstiegs der Konzertform zur «Leitform der barocken Instrumentalmusik».
ste.09.11.22 / Quellen: Bachwerkverzeichnis, Bo Erikson, Manfred Fechner, Hanspeter Thomann, Ueli Steiner, Wikipedia